«Der Staat muss benachteiligte Familien noch besser erreichen»

18.03.2019

Der St. Galler SVP-Regierungspräsident Stefan Kölliker sagt im Interview, weshalb er die Ready! Kampagne unterstützt, spricht über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Verantwortung des Staates bezüglich der frühen Kindheit. Der 48 Jahre alte Bildungschef nimmt auch die Wirtschaft in die Pflicht.

Stefan Kölliker, SVP-Regierungspräsident St. Gallen
Stefan Kölliker, SVP-Regierungspräsident St. Gallen

Was ist Ihre früheste Kindheitserinnerung, und wie alt waren Sie da?
Stefan Kölliker: Ich erinnere mich an eine Ferienreise mit meinen Eltern. Ich war damals sechs Jahre alt. Mit meinem ersten Sackgeld hatte ich ein Souvenir gekauft, das ich zu Hause stolz im Freundeskreis herumreichte.

Was bedeutet es für Sie, Kinder zwischen 0 und 4 Jahren zu fördern?
Als Bildungschef des Kantons St. Gallen und dreifacher Familienvater bin ich mir bewusst, dass die Jahre nach der Geburt bis zum Schuleintritt für ein Kind elementar sind. Diese bedeutsame Lebensphase wurde lange unterschätzt. Wir haben heute eine grosse Heterogenität bei Schuleintritt. Das ist für Lehrpersonen eine enorme Herausforderung. Ziel muss es sein, gerechte Bildungs- und Entwicklungschancen für alle Kinder zu schaffen – also auch für jene Kinder, die in einem sozioökonomisch benachteiligten Umfeld aufwachsen. Sie profitieren in besonderem Mass von Angeboten der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung. Mittelbar wird dadurch der Zusammenhalt der Gesellschaft gestärkt, was sich wiederum günstig auf den sozialen Frieden und den Wohlstand auswirkt. Frühe Förderung ist eine wirkungsvolle Integrationsleistung.

Stichwort Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Wie nehmen Sie diesen Balanceakt in Ihrem persönlichen Umfeld wahr?
Unsere Kinder sind 14, 12 und 10 Jahre alt. Als ich vor elf Jahren zum Regierungsrat gewählt wurde, mussten meine Frau und ich einen Weg finden, damit wir unsere Erziehungsverantwortung trotz meiner beruflichen Belastung nach unserem Gutdünken wahrnehmen konnten. Die Organisation des Familienlebens ist eine grosse Herausforderung. Wir schaffen uns unter dem Jahr gemeinsame Ruheinseln – beispielsweise für Ferien und Ausflüge. An den Wochenenden nehmen wir uns jeweils bewusst Zeit füreinander. Fehlen diese Zeitfenster für die Familie, besteht die Gefahr, dass früher oder später zwischenmenschliche Spannungen auftreten, die kaum mehr zu bewältigen sind.

Weshalb engagieren Sie sich für READY! und damit für eine umfassende Politik der frühen Kindheit?
Ich möchte mein Wissen und meine Erfahrung weitergeben. Kinder brauchen eine anregungsreiche, liebevolle und beschützende Umwelt, damit sie sich entwickeln und entfalten können. In der frühen Kindheit werden wichtige Weichen für die emotionale, soziale, gesundheitliche und kognitive Entwicklung von Kindern gestellt. Wir müssen Familien stärken, indem sie dort befähigt und unterstützt werden, wo es notwendig ist.

Was tun Sie in diesem Bereich konkret in Ihrem Kanton?
Der Kanton St. Gallen hat die Bedeutung der frühen Kindheit schon vor einigen Jahren erkannt. 2015 wurde die Strategie Frühe Förderung verabschiedet. Diese beschreibt, wie die Rahmenbedingungen für kleine Kinder, ihre Eltern und Bezugspersonen bis ins Jahr 2020 verbessert werden sollen. Dabei bilden die Departemente für Soziales, Bildung und Gesundheit die drei tragenden Säulen. Im Rahmen der Strategie übernimmt der Kanton eine wichtige Rolle bei der Koordination, Finanzierung und Umsetzung der festgelegten Massnahmen.

Was bedeutet die kantonale Strategie für die Gemeinden?
Die kantonale Strategie bildet für die Gemeinden einen Orientierungsrahmen. Zusammen mit den lokalen Anbietern der Frühen Förderung sollen die Gemeinden, in deren Zuständigkeit die frühe Kindheit fällt, für nachhaltige Leistungen und gute Bildungs- und Betreuungsqualität sowie für Begegnungsorte für Familien wie Spielplätze oder Familienzentren sorgen. Ein umfassendes Betreuungsangebot erhöht zudem die Attraktivität einer Gemeinde bedeutsam.

Was gelingt in der Schweiz bezüglich der frühen Kindheit gut?
Es ist schwierig, für die ganze Schweiz zu sprechen, ist die Situation doch sehr unterschiedlich. In Bezug auf den Kanton St. Gallen lässt sich sagen, dass die Bedeutung der Frühen Förderung für die Familien und die Gesellschaft anerkannt und das Thema sehr präsent ist. Unsere Elternbildungsanlässe sind sehr gefragt. Die Frühe Förderung funktioniert als Verbundaufgabe. Sowohl der Kanton als auch die Gemeinden tragen Verantwortung. Zudem wird das wichtige Engagement von Fachinstitutionen im Frühbereich mit einbezogen. Der Kanton St. Gallen fordert die Gemeinden dazu auf, das Angebot an ihre Bedürfnisse anzupassen. Auf diese Weise können individuelle Lösungen angeboten werden.

Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf?
Eine Herausforderung liegt in der Vernetzung zwischen den verschiedenen Akteuren, also sowohl der staatlichen Stellen als auch der verschiedenen Anbietern von Angeboten der Frühen Förderung. Die Zusammenarbeit kann sicherlich noch verbessert werden. An vielen Orten gibt es in der Zwischenzeit eine Fülle an Angeboten. Dies ist einerseits sehr erfreulich, stellt für die Gemeinden und Schulen aber andererseits auch eine Herausforderung dar, weil es dadurch unübersichtlich werden kann. Auch hier gibt es noch einigen Koordinationsbedarf. Und noch etwas ist mir wichtig.

Sagen Sie es uns.
Damit die Fördermassnahmen einen nachhaltigen Nutzen haben, müssen sie aufeinander abgestimmt und in einigen Fällen auch über den Frühbereich hinaus fortgesetzt werden. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Übergang vom Frühbereich in den Kindergarten. Hier müssen nicht nur die Eltern und Schulen frühzeitig zusammenarbeiten. Es ist auch wichtig, dass sich Schulen und Fachpersonen aus dem Frühbereich vermehrt vernetzen und austauschen.

In welcher Verantwortung sehen Sie den Staat?
Aufgabe des Staates ist es, gute Rahmenbedingungen für ein gesundes Aufwachsen von Kindern zu schaffen – sowohl im urbanen Raum als auch in ländlichen Gebieten. Damit meine ich die Stärkung der Familien durch familienunterstützende Massnahmen wie Mütter- und Väterberatung, Elternbildung und Heilpädagogische Früherziehung. Zu familienfreundlichen Rahmenbedingungen können aber auch familienergänzende Betreuungsangebote wie Kindertagesstätten, Spielgruppen oder Tagesfamilien gezählt werden. Diese leisten über die Frühe Förderung hinaus einen Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Familien, welche die Angebote nutzen, sollen sich nach den finanziellen Möglichkeiten an den Kosten beteiligen.

Was macht der Kanton St. Gallen konkret in diesem Bereich?
Der Kanton St. Gallen hat letztes Jahr dem Kantonsrat einen Bericht zur familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung unterbreitet, der verschiedene Massnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf vorsieht. Von der beabsichtigten Entschärfung des Fachkräftemangels durch die Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen profitiert der Staat selbst aufgrund der erhöhten Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen und tieferen Kosten im Sozialwesen.

In welcher Verantwortung sehen Sie die Wirtschaft?
Die Wirtschaft gehört zu den Nutzniessern von einem gut ausgebauten Betreuungsangebot. Es ist deshalb richtig, wenn auch sie sich angemessen an den Kosten der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung beteiligt und allenfalls selbst solche Angebote führt. Arbeitgebende müssen Arbeitsbedingungen schaffen, die es ihren Mitarbeitenden erlauben, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Dazu ist die finanzielle Unterstützung des Betreuungsangebots nur ein Teil der Lösung. Auch Möglichkeiten für Teilzeit- und Telearbeit, Gleit- und Jahresarbeitszeiten, flexible Lösungen bei unvorhersehbaren Kurzabwesenheiten oder Job-Sharing-Modelle sind einige Beispiele, wie die Arbeitsbedingungen vereinbarkeitsfördernd gestaltet werden können. Arbeitgebende haben so die Möglichkeit, sich als familienfreundlich zu positionieren, was ihnen im Wettbewerb um begehrte Fachkräfte einen erheblichen Vorteil verschaffen kann.

Welche zusätzlichen Massnahmen braucht es vom Staat, damit die Situation im Frühbereich verbessert wird?
Vom Staat wünschte ich mir, dass er benachteiligte Familien noch besser erreicht, damit deren Kinder die Angebote vermehrt nutzen können. Hier braucht es auch in Zukunft weitere Anstrengungen. Familien mit Unterstützungsbedarf sollten so früh wie möglich erkannt und einbezogen werden. Dies erleichtert den Kindern später den Eintritt in den Kindergarten und stärkt die Eltern in ihrer Aufgabe. Zudem wird damit eine gute Grundlage für die spätere Zusammenarbeit mit der Schule geschaffen.

Mit welchen Argumenten würden Sie Kritiker davon überzeugen, dass sich Investitionen in die frühe Kindheit langfristig für die Schweiz auszahlen?
Von den Investitionen in die frühe Kindheit profitieren alle, zuallererst natürlich die Kinder und deren Familien, die Schule, aber auch die Wirtschaft und die öffentliche Hand. Frühe Förderung ist Prävention. Es ist besser, früher zu unterstützen als abzuwarten und spät zu heilen. Was in dieser Phase verpasst wurde, lässt sich während der Schulzeit und im Erwachsenenleben nur noch mühsam aufholen. Frühe Förderung leistet einen wichtigen Beitrag zur Chancengerechtigkeit und zur Armutsbekämpfung, ebenso wie zur gesellschaftlichen und sprachlichen Integration von Kindern.

Interview: Thomas Wälti