«Die Entwicklung von Berichten und Impulsprogrammen reicht nicht mehr aus»

25.03.2021

Mit Ständerätin Elisabeth Baume-Schneider (SP/JU) hat sich die READY!-Trägerschaft prominent verstärkt. Im Interview erwähnt die ehemalige Regierungsrätin, welche Schwerpunkte sie bei der Erziehung ihrer beiden Söhne zu setzen versuchte und was sie in der Politik der frühen Kindheit erreichen möchte. Für eine bessere Politik der frühen Kindheit sei endlich eine nationale gesetzliche Grundlage für eine gesamtschweizerische Strategie sowie ein stärkeres und ständiges finanzielles Engagement des Bundes erforderlich.

Elisabeth Baume-Schneider, Ständerätin SP/JU und Trägerin von READY!
Elisabeth Baume-Schneider, Ständerätin SP/JU und Trägerin von READY!

Was ist Ihre frühste Kindheitserinnerung?
Wir wissen bekanntlich nie, ob es eigene Erinnerungen sind oder solche, die durch spätere Erzählungen rekonstruiert wurden. Ich lebte als Kind auf einem Bauernhof und habe viel mit zwei Freundinnen aus der Nachbarschaft gespielt. Eines Tages kam ich mit einem kleinen Hund auf dem Arm nach Hause. Ich hatte diesen von den Nachbarn erhalten. Meine Eltern waren verblüfft, dennoch durfte ihn behalten. Das war so mit rund 4 Jahren und ist meine früheste Erinnerung... zum Zeitpunkt dieses Interviews.

Inwiefern hat Ihnen Ihre Kindheit in Ihrer Entwicklung geholfen?
Ich habe eine sehr partizipative Kindheit erlebt. Wir wurden bei der Arbeit auf dem Bauernhof stark eingebunden, uns wurde früh Verantwortung übertragen. Als Kind werden die kleinen Aktivitäten, die einem anvertraut werden, als sehr wichtig angesehen. Ich erinnere mich daran, dass ich für das Abendessen das Feuer für den Herd machen musste. Ich war manchmal genervt, da ich mit dem Spielen aufhören musste. Aber ich wusste auch, dass meine Arbeit für alle wichtig war, denn wenn wir kein Feuer hatten, gab es auch kein Abendessen. Das Selbstvertrauen von Kindern wird stark von den ersten Jahren geprägt.

Wo haben Sie bei Ihren Kindern angesetzt?
Auch wir haben unseren Kindern früh Verantwortung übertragen, aber sie begleitetet und nicht überfordert. Es war meinem Ehemann und mir wichtig, dass unseren beiden Buben spürten, dass sie eine wichtige Rolle in der Familie einnehmen, dass wir auf sie zählen und dass sie auf uns zählen können.

Sie haben sich früh stark in der Politik engagiert. Inwiefern hatte dies Einfluss auf das Familienleben und die beiden Kinder?
Meinen jüngeren Sohn habe ich zur Welt gebracht, als ich Parlamentspräsidentin des Kantons Jura war. Ich nahm ihn überall mit und stillte. Aufgrund meiner späteren Wahl in den Regierungsrat war es vor allem mein Ehemann, der sich um unsere beiden Söhne gekümmert hat. Sie waren damals 9 und 2. Wir mussten uns arrangieren. Mein Mann und ich haben beide ein enges und offenes familiäres Umfeld. Er hat sein Arbeitspensum auf 50% reduziert. Einen Tag war unser jüngeres Kind in der Krippe, die restliche Zeit konnten wir auf das Familiennetzwerk zurückgreifen. Es war Glück, dass wir es so organisieren konnten. Umso wichtiger ist die familienergänzende Kinderbetreuung. Eltern sollten die Wahl haben und sich nicht schuldig fühlen, wenn sie auf externe Betreuung zurückgreifen. Qualität ist bei der familienergänzenden Kinderbetreuung wichtig, denn sie ist eine echte Investition für die Kinder.

Ist das Ihr Kernziel oder was möchten Sie mit READY! erreichen?
Ich will, dass die Persönlichkeit und das Potenzial jedes Kindes im Zentrum stehen und wir eine echte Chancengerechtigkeit erreichen. Im Bereich der familienexternen Kinderbetreuung muss eine echte Wahlmöglichkeit erreicht werden. Hierzu haben wir als Gesellschaft eine kollektive Verantwortung, die es mit den Familien zu teilen gilt. Der Staat schafft die Rahmenbedingungen, damit Familien die beste Lösung im Interesse des Kindes und der familiären und beruflichen Organisation wählen können. So können auch die Eltern zum wirtschaftlichen Wohlstand des Landes beitragen, weil sie ihre berufliche Tätigkeit mit vollem Vertrauen in die Betreuung ihrer Kinder fortsetzen können.

Was sind für Sie die eindrücklichsten Fakten, wenn es um die Frühe Kindheit geht?
Der Hebel für mehr Chancen- und Erfolgsgerechtigkeit ist enorm, wenn wir Risikosituationen frühzeitig erkennen. Kinder aus schwierigen Verhältnissen haben bei einer guten Betreuung und Förderung in der frühen Kindheit meistens weniger Schwierigkeiten in der Schule.

Was gelingt in der Schweiz gut und was sollte verbessert werden?
Der Kanton Tessin war mit der “Scuola dell'infanzia” in den Hochtälern Vorreiter, dort gab es schon sehr früh Kindertagesschulen. Es braucht immer wieder avantgardistische Projekte, um vorwärtszukommen. Heute gibt in Bezug auf das Angebot zwischen der lateinischen und der deutschsprachigen Schweiz grosse Unterschiede. In der Westschweiz hat die Erhöhung der Betreuungsplätze dank der Unterstützung durch die Impulsprogramme des Bundes, der Städte und in einigen Kantonen sogar von Unternehmen sehr gut funktioniert. Auch die Qualität ist auf einem guten Niveau. Ein Problem bleibt: die hohen und unterschiedlichen Kosten für die Familien. Die Krippengebühren sind meist deutlich höher als die Steuerabzüge, was dazu führt, dass die Person mit dem niedrigsten Gehalt oft auf die Arbeit verzichtet und damit die eigene Situation schwächt, zum Beispiel bei einer Trennung oder der Krankheit des Ehepartners. Eine echte freie Wahl ist dadurch nicht sichergestellt.

Was lehrt uns die Coronakrise?
Es offenbarte leider, wie abhängig wir in der Kinderbetreuung vom familiären Netzwerk sind. Bereits Pierre-Yves Maillard sagte: Die grösste Kinderkrippe in der Schweiz sind die Grosseltern. Diese Abhängigkeit sorgt für Chancenungleichheit und mangelnde Wahlmöglichkeiten Die Erziehung eines Kindes erfordert eine hochwertige Beziehung und eine grosse Verfügbarkeit. Es ist nicht nur eine Beschäftigung parallel zur beruflichen Tätigkeit. Vielleicht haben wir durch die Krise ein besseres Verständnis für die Rolle der Schule entwickelt. Die frühe Kindheit aber wird noch immer stiefmütterlich behandelt. Diskussionen über die Rahmenbedingungen oder die Arbeitsbedingungen in den Kinderkrippen waren zu wenig nachhaltig.

Wie soll sich das ändern, wovon erhoffen Sie sich die entscheidenden Impulse?
Ich wünsche mir, dass der Bund und die SODK nicht nur bekräftigen, dass die frühe Kindheit wichtig ist, sondern sich auch engagieren und die Situation tatsächlich zu verbessern. Die Entwicklung von Berichten und Impulsprogrammen reicht nicht mehr aus, es gilt nun zu Handeln. Es gilt Entscheidungen zu treffen, und zwar auf nationaler Ebene. Ich unterstütze eine nationale Strategie, nur schon deshalb, weil es keine gesetzliche Grundlage für die frühe Kindheit von 0 bis 4 Jahren gibt. Eine nationale Strategie wird helfen, genauere Daten zu haben und sie zu aggregieren, um die Zuständigkeiten der verschiedenen Behörden und Partner zu klären, sei es im Bereich Familienpolitik, Wirtschaftspolitik, Gesundheitspolitik oder Integrationspolitik. Das Thema ist komplex. Vielleicht braucht es ein «Bundesamt für die frühe Kindheit». Wir haben bei HARMOS viel gelernt. Das wird helfen, auch für den Bereich der Frühen Kindheit gemeinsam eine gute Lösung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden zu finden.

Wie sollten mögliche Finanzierungen erfolgen?
Ich habe keinen konkreten Finanzplan dafür, sonst hätte ich es schon längst vorgeschlagen (lacht). Ich stelle die Hypothese auf, dass es einen besseren Verteilschlüssel zwischen dem Bund und den Kantonen braucht, um zu vermeiden, dass die Gemeinden die Kosten für Kinderbetreuungseinrichtungen allein tragen müssen. Auch die Wirtschaft ist gut beraten, ihren Teil dazu beizutragen, denn Teilzeitarbeitslösungen ermöglichen es den Betroffenen, ihre Fähigkeiten und ihr erworbenes Wissen optimal zu nutzen.

Haben Sie einen Wunsch rund um das Thema Frühe Kindheit?
Ich möchte, dass wir im Jahr 2023, am Ende der laufenden Legislatur, über eine nationale gesetzliche Grundlage verfügen, die eine dauerhafte finanzielle Unterstützung im Bereich der frühen Kindheit ermöglicht. Nur so können wir ein schweizweites, qualitatives Angebot sicherstellen, das für alle zugänglich ist, die bestmögliche Entwicklung unserer Kinder sicherstellt und echte Wahlmöglichkeiten für die Familien ermöglicht.

Autor: Claudio Looser
Das Interview wurde auf Französisch geführt.