«Die Politik muss ein klares Bekenntnis zu Spielgruppen abgeben»

15.12.2017

Spielgruppen und Kindertagesstätten leisten einen enormen Beitrag an die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Politisch haben Spielgruppen gegenüber den vom Bund subventionierten Kitas aber einen schweren Stand. Eva Roth, Präsidentin des Schweizerischen Spielgruppen-LeiterInnen-Verbands (SSLV), kämpft für mehr Akzeptanz. Eine neu lancierte Broschüre soll Parlamentarier aufklären.

Eva Roth, Präsidentin des Schweizerischen Spielgruppen-LeiterInnen-Verbands (SSLV)
Eva Roth, Präsidentin des Schweizerischen Spielgruppen-LeiterInnen-Verbands (SSLV)

65 Prozent aller Kinder in der Deutschschweiz besuchen vor dem Eintritt in den Kindergarten eine Spielgruppe. Was ist der Sinn und Zweck einer Spielgruppe?

Eva Roth: Spielen! «Spielen ist Dünger für das Gehirn», lautet ein Zitat des Hirnforschers Gerald Hüther. Kreativität und Flexibilität gelten als Kompetenzen der Zukunft. In einer Spielgruppe dürfen Kinder ihren Einfallsreichtum entdecken und ausleben. Experimentieren ist ausdrücklich erwünscht – so üben die «Fachkräfte von morgen» spielend wichtige Vorläufertätigkeiten.

Spielgruppen sind also auch für Familie und Gesellschaft von grosser Bedeutung?

Ja. Als Bildungsinstitutionen und wichtiger Teil der Bildungskette sind Spielgruppen wertvolle Partner für Verantwortliche aus dem Bereich Bildung. SpielgruppenleiterInnen arbeiten mit den Eltern zusammen, übernehmen Aufgaben im Bereich der Früherkennung und begleiten Übergangsituationen wie beispielsweise den Übertritt in den Kindergarten. So kann gemeinsam mit den Familien ein tragfähiges Fundament für eine gelungene Bildungslaufbahn gelegt werden. Spielgruppen leisten auch einen wesentlichen Beitrag zur Integration von Familien mit Migrationshintergrund. Kinder können ihre sprachlichen Kompetenzen in Spielgruppen erweitern. Längst haben Wirtschaftswissenschaftler bewiesen, dass Investitionen in die frühe Kindheit langfristig rentabel sind.

Worin unterscheidet sich eine Spielgruppe von einer Kindertagesstätte (Kita)?

Es handelt sich um zwei verschiedene Angebote. Kindertagesstätten erleichtern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Eltern können ihre Kinder als Baby bis zum Schuleintritt frühmorgens in die Kitas bringen, wo letztere gewöhnlich bis am Abend betreut werden. Dies ermöglicht es den Eltern, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Etwa 30 Prozent der Kinder in der Deutschschweiz haben bei Kindergarteneintritt Kita-Erfahrung. Spielgruppen verstehen sich als Angebote im Bereich frühe Bildung. In der Spielgruppe treffen sich Kinder ab circa 2½ Jahren bis zum Eintritt in die obligatorische Schulzeit in einer konstanten Gruppe ein- oder mehrmals wöchentlich während höchstens einem halben Tag, was den Eltern in der Regel nicht erlaubt, zur Arbeit zu gehen. Die Spielgruppe unterstützt die soziale, emotionale, kognitive, körperliche und psychische Entwicklung von allen Kindern zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten. Das zentrale Bildungsmittel ist das Spiel, welches in der Spielgruppe im Mittelpunkt steht. Zwei Drittel aller Kinder in der Deutschschweiz haben bei Kindergarteneintritt bereits einmal eine Spielgruppe besucht. Eine Spielgruppe wird von ausgebildeten SpielgruppenleiterInnen geleitet, welche die Ausbildung in der Regel als Zweitberuf gewählt haben.

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist für den Bundesrat eine politische Priorität. Finden auch die Anliegen der Spielgruppen Gehör beim Bundesrat?

Die Behörden realisieren allmählich, dass Spielgruppen in der Öffentlichkeit vermehrt wahrgenommen werden. Sie sind längst keine Selbsthilfeorganisation von gut situierten Eltern mehr. Bundesrat Alain Berset äusserte sich betreffend frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung differenzierter als die meisten Politiker und Parlamentarier. Er hat bereits an der Nationalen Armutstagung 2016 in Biel die Spielgruppen separat erwähnt. Gefreut hat mich auch das Grusswort von Bundesrat Alain Berset in unserem Magazin «Spielgruppen prägen». Er schrieb, dass Spielgruppen im Bildungssystem der Schweiz eine wichtige Bedeutung hätten. Sie würden Kindern ein anregendes Lernumfeld unter fachlicher Leitung bieten. Auch lobte er den Berufsverband SSLV, der einen grossen Beitrag in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung leistet. Der SSLV sei in der Familienpolitik, Armutsprävention und Integrationsförderung eine wichtige Stimme.

Weshalb haben Sie das Magazin «Spielgruppen prägen» mit einer Auflage von 50 000 Exemplaren lanciert?

Wir wollen Aufklärungsarbeit leisten und das Magazin an die Parlamentarier und Politiker verteilen. Ich wünsche mir, dass Entscheidungsträger aus Behörden und Politik, die mit dem Frühbereich zu tun haben, wissen, was in einer Spielgruppe überhaupt geschieht. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann nicht gleichgesetzt werden mit frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung und kann in diesem Sinne auf der politischen Agenda auch nicht die oberste Maxime sein. Auch Spielgruppen leisten zur Frühförderung einen bemerkenswerten Beitrag – auch wenn sie über eine weitaus schwächere Lobby verfügen. Die beiden unterschiedlichen Angebote dürfen von der Politik nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Wie meinen Sie das?

Einige Kantone haben im Bereich der Bildung aus Spargründen ihre Budgets zusammengestrichen. So auch der Kanton Bern, der gerade bekannt gegeben hat, den Kantonsbeitrag für Spielgruppen um 250 000 Franken zu kürzen. Das erschwert unsere Arbeit ungemein, denn wir können unser Leistungspotenzial nur ausschöpfen, wenn wir von Kanton und Gemeinde unterstützt werden. Wir benötigen geeignete Räume und mehr personelle Ressourcen an pädagogisch qualifiziertem Personal, damit wir Spielgruppen mit einer Zweierleitung führen können. Ausserdem dürfen die Tarife für die Eltern nicht zu hoch sein. Es darf nicht sein, dass Eltern sich keinen Spielgruppenplatz leisten können und deshalb ihre Kinder keine Möglichkeit haben, sich mit anderen Kindern auseinander zu setzen. Spielen, Verhalten ausprobieren, gemeinsam entdecken, experimentieren und sich in dem Sinne zu sozialisieren ist ein Muss für eine gesunde Entwicklung. Hier wünschte ich mir mehr Unterstützung von den Kantonen und Gemeinden, die Elternbeiträge subventionieren könnten.

Die Sparmassnahmen dürften die SpielgruppenleiterInnen besonders hart treffen?

Ja, es gibt Sozialämter, welche die SpielgruppenleiterInnen bitten, Sozialtarife zu gewähren, um die Kosten zu senken. Das führt dazu, dass SpielgruppenleiterInnen für immer weniger Lohn arbeiten müssen. Eine Spielgruppe kann über Elternbeiträge allein nicht kostendeckend finanziert werden. Es ist auch keine Lösung, die Elternbeiträge beliebig zu erhöhen, sonst besteht die Gefahr, dass Spielgruppen nur noch für einen elitären Zirkel erschwinglich werden. Statt in unsere Zukunft zu investieren, schauen einzelne Kantone heute nur darauf, Geld einzusparen. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Auch deshalb möchten wir mit unserem Magazin aufklären.

Was muss die Politik denn machen?

Die Politik muss ein klares Bekenntnis zu Spielgruppen abgeben. Mit unserer Broschüre «Spielgruppen – Empfehlungen für Gemeinden und Kantone» zeigen wir den Gemeinden und Kantonen, wie sie zum künftigen Bildungserfolg der Kinder beitragen können. Heute ist es so, dass in den Gemeinden nur die Kitas vom Soziallastenausgleich unter den Kantonen profitieren. Möchte eine vom Sozialdienst abhängige Migrationsfamilie ihr Kind in eine Spielgruppe schicken, erhält sie keine finanzielle Unterstützung. Das ist nicht fair. Erziehung und vorschulische Bildung ist Sache der Familie. Ich finde, dass die Eltern darüber entscheiden sollen, welches Angebot für ihr Kind das bessere ist.

Was wünschen Sie sich für 2018?

Ich wünsche mir, dass zwischen Spielgruppen-Anbietern und Gemeinden Leistungsvereinbarungen getroffen werden. Die Unterstützung dient der Qualität – und ist ein enorm wichtiger Beitrag zum Wohl der Kinder, der Eltern und unserer Gesellschaft. Um die Qualität in den Spielgruppen zu fördern, vergibt der SSLV seit 2004 ein Qualitätslabel im Spielgruppenbereich.

Interview: Thomas Wälti

In der Schweiz gibt es ca. 4500 Spielgruppen.
Kinder in einer Spielgruppe. (Symbolbild)

4500 Spielgruppen in der Deutschschweiz
In der Schweiz gibt es circa 4500 Spielgruppen. Der ehrenamtlich organisierte Schweizerische Spielgruppen-LeiterInnen-Verband (SSLV) ist Anlaufstelle für Fragen im Zusammenhang mit Spielgruppen in der Schweiz. Den SpielgruppenleiterInnen und den Behörden stehen zudem 24 Fach- und Kontaktstellen (FKS) beratend zur Seite. Die FKS stellen die kantonale Ebene des SSLV dar. Der SSLV wird von Eva Roth (48) präsidiert. Sie ist Mutter von vier erwachsenen Kindern und wohnt in Thun.
In einer Spielgruppe treffen sich etwa 6 bis 10 Kinder ab circa 2½ Jahren ein- oder mehrmals pro Woche bis zum Eintritt in den Kindergarten. Ein Spielgruppen-Halbtag dauert in der Regel circa drei Stunden. Die Kindergruppen sind konstant und werden von ausgebildeten SpielgruppenleiterInnen betreut.
Der SSLV finanziert sich gegenwärtig allein aus den Beiträgen der rund 2500 Mitglieder. Der Bund unterstützt im Rahmen von Programmen zur Anschubfinanzierung nur Kindertagesstätten, nicht aber Spielgruppen. Ziel des SSLV ist es, vom Bund gesamtschweizerisch unterstützt zu werden, beispielsweise mit einer Sockelfinanzierung, damit die Dienstleistungen für die einzelnen SpielgruppenleiterInnen verbessert werden können.
Spielgruppen sind eine Deutschschweizer Besonderheit. In der Romandie und im Tessin haben sich andere Formen der frühkindlichen Förderung etabliert. In der Schweiz gibt es keine Meldepflicht für Spielgruppen. Der SSLV ist Koalitionspartner von Ready!
www.sslv.ch