Hilfe für Eltern in Not

5.09.2018

Wenn das Telefon der Pro Juventute Elternberatung klingelt, sind einfühlsames Zuhören und kreative Lösungshilfen gefragt. Eine Nachtschicht in der Notfallzentrale im Berner Länggassquartier.

Die Beraterin Eveline Männel Fretz bei der Arbeit (Bild: Pro Juventute/ZVG)
Die Beraterin Eveline Männel Fretz bei der Arbeit (Bild: Pro Juventute/ZVG)

Es ist zwei Uhr früh. Der Anruf mitten in der Nacht verheisst nichts Gutes. Eine junge Frau meldet sich mit erstickter Stimme. Sie könne nicht mehr, ihr Baby schreie unaufhörlich. Am anderen Ende der Telefonleitung 058 261 61 61 sitzt Eveline Männel Fretz. Sie betreut in dieser Nacht die Pro Juventute Elternberatung.

Das Büro von Eveline Männel Fretz befindet sich in einer 9-Zimmer-Wohnung in der Berner Länggasse. Im Raum steht ein Bücherregal mit Fachliteratur für die Zeit der anstrengenden Kleinkinderphase – so zum Beispiel das Erziehungsstandardwerk «Babyjahre» des Schweizer Kinderarztes Remo Largo. An der Wand hängen beruhigende Blumenbilder, vor dem Fenster lädt ein Sofa zum Verweilen ein, in der Ecke stehen eine Zimmerpflanze und ein kleiner Ventilator.

Auf dem Pult ist alles bereit für den Notfall: Festnetztelefon mit Headset, Bildschirm, Tastatur und Maus – neben der persönlichen Beratung am Telefon bietet der Koalitionspartner der Ready!-Kampagne auch eine Online-Beratung an. Rund 90 Prozent der Beratungsanfragen erfolgen telefonisch, der Rest online.
Eveline Männel Fretz ist eine von insgesamt 70 Fachpersonen der Pro Juventute Beratung, die in der Deutschschweiz, in der Romandie und im Tessin alle Fragen von Eltern und Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen zu Erziehung, Entwicklung, Betreuung und Familienorganisation rasch und unkompliziert beantworten.

Anstrengend und auslaugend
In dieser Nacht ist Eveline Männel Fretz allein in der Notfallzentrale. Die Stille während ihres Spätdienstes von 22.45 bis 7.30 Uhr verleiht ihr mitunter ein leicht mulmiges Gefühl. «Wenn nachts das Telefon klingelt, brennt es in der Regel», sagt die gelernte Sozialarbeiterin. Die Mutter zweier Kinder arbeitet seit sechs Jahren mit einem 50-Prozent-Pensum bei Pro Juventute. «Mehr möchte ich mir nicht zumuten. Der Job kann auslaugend sein – gerade in Akutsituationen, in denen ein Gespräch bis zu einer Stunde dauern kann.»

Durchschnittlich acht Anfragen jeden Tag
Täglich gehen bei der Pro Juventute Elternberatung im Durchschnitt acht Anfragen ein. Die Beratungsdauer beträgt durchschnittlich 20 Minuten. An erster Stelle steht die Familienorganisation. Hier geht es unter anderem darum, die Wiedereingliederung der Mutter ins Erwerbsleben zu planen, die Familienregeln zu definieren, Grenzen zu setzen und Ämtli im Haushalt zu verteilen. Auch müssen die Eltern lernen, ihre Kinder loszulassen.

Manchmal ruft ein Vater an, weil sein Kind Suizidgedanken äussert. Dann hört Eveline Männel Fretz ihrem besorgten Gegenüber einfühlsam zu, stets bemüht, es zum Reflektieren anzuregen. «Menschen in Sorge wünschen sich vor allem, dass ihnen jemand zuhört. Ich habe immer ein offenes Ohr für sie», sagt die Baslerin, die häufig auf den sympathisch wirkenden Dialekt angesprochen wird. «In einem zweiten Schritt versuche ich, Wege für den weiteren Verlauf des Problemlösungsprozesses aufzuzeigen», meint die Mittvierzigerin. Um anzufügen: «Die Elternberatung ist eine niederschwellige Erstberatung. Bei Bedarf vermitteln wir passende Fachstellen.» Die Elternberatung sei keine medizinische Fernhilfe. «Wenn ein Kind beispielsweise hohes Fieber hat, empfehlen wir, einen Notarzt zu konsultieren. Da gehen wir kein Risiko ein.»

Kinder nicht überfordern
Ziel der Ready!-Kampagne ist es zum Beispiel, Chancengerechtigkeit zu schaffen. Dieses Thema stosse in der Pro Juventute Elternberatung auf grosses Interesse, bestätigt Eveline Männel Fretz. «Eltern wollen ihren Kindern ein breites Angebot an altersgerechter Förderung und Betreuung bieten, damit die Chancengerechtigkeit beim Eintritt in die Schule gewährleistet ist.» Dabei bestehe die Gefahr, warnt Eveline Männel Fretz, dass die Kinder überfordert würden.

Vor zwei Jahren hat Pro Juventute die Studie «Freiräume und Spielverhalten» in Auftrag gegeben. Die Erkenntnisse waren frappant: Im Durchschnitt spielt ein Kind in der Schweiz noch gut eine Dreiviertelstunde pro Tag draussen. Vor 15 Jahren bewegten sich Kinder noch mehr als drei Mal länger an der frischen Luft, nämlich zweieinhalb Stunden. Eveline Männel Fretz sagt: «Wenn ein Kind im Garten eine Stunde lang Wasser von einer Spritzkanne in eine Tasse giesst, soll es das ruhig tun, auch wenn die Eltern keinen Sinn darin sehen. Diese Tätigkeit fördert aber die Ausdauer, Fingerfertigkeit und Konzentration – und macht einfach Spass.»

Es kommt häufig vor, dass Eltern herausfinden wollen, ob sich ihr Kind noch normal oder bereits auffällig benimmt. «Unlängst hat mir ein Vater erzählt, dass sein Sohn mutwillig einen Käfer zertrat, obschon er seinen Sprössling vorher aufgeklärt hatte, dass dies ein Lebewesen sei. Er fragte mich, ob sein Sohn nun bis an sein Lebensende Tiere quälen würde», erzählt Eveline Männel Fretz. Sie habe dem Vater dann gesagt, dass kein Kind gleich sei wie das andere. Der Sohn habe die Grenzen austesten wollen – wie jenes Kind, das sich trotz Vorwarnung an der Herdplatte die Finger verbrennt. «Wichtig ist es in solchen Situationen, angemessen zu reagieren, damit sich die Kinder ernst genommen fühlen.»

Pizzabestellung unter dieser Nummer
Wenn es ruhig ist im Beratungszimmer in der Berner Länggasse, bildet sich Eveline Männel Fretz mit dem Studium von Fachliteratur weiter. Oder sie bedient die kostenlose Notrufnummer 147, die über die gleiche Telefonleitung geschaltet ist und Hilfe für Kinder und Jugendliche in Not anbietet. Manchmal würden Kinder per Zufall anrufen und verzückt «Hallo» sagen, weil die Tasten 1-4-7 übereinander liegen, sagt die Beraterin. Was auch schon vorgekommen ist: Juxtelefone. «Einmal wollte jemand unter dieser Nummer eine Pizza bestellen», erzählt Eveline Männel Fretz. «Ich habe dann gesagt, dass diese Bestellung bei uns leider nicht eingegangen ist.»
Es ist jetzt drei Uhr früh. Eveline Männel Fretz legt den Hörer auf – mit der Gewissheit, dass sich die Mutter wieder beruhigt hat. Während des einfühlsamen Gesprächs ist das Baby eingeschlafen. Es blieb genügend Zeit, die Planung der Ressourcen in der Familie für den bald anbrechenden Morgen zu klären.

Autor: Thomas Wälti

Kompetente Unterstützung für Eltern
Bei der Elternberatung von Pro Juventute können Eltern rund um die Uhr anrufen und sich jederzeit mit einer Fachperson austauschen. Mit diesem Angebot werden Mütter und Väter in ihrem Erziehungsalltag unterstützt.
Die Pro Juventute Elternberatung ist per Telefon unter 058 261 61 61 oder online unter elternberatung.projuventute.ch erreichbar.

Elternbriefe
Die Pro Juventute Elternbriefe sind seit über 40 Jahren eine wichtige Stütze für mehr als 65’000 Mütter und Väter, die zum ersten Mal Eltern werden. Sie enthalten wichtige Informationen und praxisorientierte Tipps rund um die Themen Pflege, Ernährung, Erziehung, Entwicklung des Kindes, Mutter-Vater-Rolle sowie Partnerschaft und Kinderbetreuung. Die Pro Juventute Elternbriefe begleiten Mütter und Väter vom 1. bis 6. Lebensjahr ihres Kindes.
Die Elternbriefe werden in Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch angeboten. Schweizweit wurden im Jahr 2017 rund 460’000 Exemplare der Elternbriefe verschickt.
Eine erfolgreiche Integration von Kindern mit Migrationshintergrund beginnt in den ersten Lebensjahren und bezieht die ganze Familie ein. Der zweisprachige Ratgeber «Unser Kind» ist ein Ergänzungsangebot zu den klassischen Pro Juventute Elternbriefen. «Unser Kind» gibt es in neun Migrationssprachen: Albanisch, Arabisch, Bosnisch-Kroatisch-Serbisch, Portugiesisch, Spanisch, Tigrinya, Tamilisch, Türkisch und Englisch – jeweils in Kombination mit Deutsch, Französisch oder Italienisch.
www.projuventute.ch