Im Zentrum der Frühförderung

17.11.2017

In Bottighofen befinden sich Kita, Spielgruppe, Hort, Kindergarten, Schule und Mittagstisch allesamt in der gleichen Strasse. Ein Augenschein in der kleinen Thurgauer Gemeinde, die auf engstem Raum eine umfangreiche familienergänzende Kinderbetreuung anbietet.

Schulstrasse: Daniel Lindner, Marion Sontheim und Patrik Hugelshofer (von links) vor dem Kindergarten und Schulhaus (hinten).
Schulstrasse: Daniel Lindner, Marion Sontheim und Patrik Hugelshofer (von links) vor dem Kindergarten und Schulhaus (hinten).

Wer die Bärenhöhle verlässt, hat Heisshunger. Kürbissuppe, Schnitzel mit Kartoffeln, Salat und Früchte kommen am Mittagstisch gerade recht. Die Kinder stürzen sich auf die Köstlichkeiten.

Marion Sontheim ist die Bärenwärterin in der Thurgauer Gemeinde Bottighofen. Vor zehn Jahren hatte sie die Spielgruppe Bärenhöhle ins Leben gerufen und das Angebot weiter ausgebaut. Aber nicht nur das: Die 37 Jahre alte gebürtige Deutsche erinnerte die Gemeinde daran, was im Leitbild steht: «familienfreundliches Dorf». Viele Eltern wünschten sich in Bottighofen nicht nur eine Spielgruppe, sondern auch eine Krippenbetreuung. Sie wollten nicht mehr 30 Minuten im Auto sitzen, um die nächste Krippe zu erreichen.

Deshalb sensibilisierte Sontheim die Behörden für diese Bedürfnisse. Die Gemeinde reagierte prompt. Sie renovierte ein über 100 Jahre altes Haus, das unter Denkmalschutz stand, und stellte die Räumlichkeiten den einzelnen Anbietern zur Verfügung. Die Transformation gelang: Heute ist der Ort mit etwas mehr als 2000 Einwohnern punkto familienergänzender Kinderbetreuung eine Schweizer Vorzeige-Gemeinde. Auf engstem Raum stehen in der Schulstrasse vier Gebäudekomplexe, die es berufstätigen Eltern ermöglichen, ihren Kindern praktisch eine Rundum-Betreuung zu bieten – vom Säugling bis zum angehenden Oberstufenschüler. Gegenwärtig nutzen 150 Kinder dieses Angebot.

Abstimmung am 5. Dezember
Mit den bestehenden Strukturen Kinderkrippe Calimero, Spielgruppe Bärenhöhle und Mittagstisch Bottighofen schafft die Gemeinde die Voraussetzungen dafür, dass Kleinkinder bis zum Eintritt in den Kindergarten eine ganztägige Betreuung in Anspruch nehmen können. Hinzu kommen zwei Hortplätze und die Offene Jugendarbeit Kreuzlingen. Sie organisiert jeweils am Donnerstagnachmittag in Bottighofen Aktivitäten für die ortsansässigen Primarschüler der 5. und 6. Klasse.
Am 5. Dezember entscheidet die Gemeindeversammlung darüber, ob acht zusätzliche Hortplätze eingerichtet werden – es wäre das letzte Puzzleteilchen im pädagogischen Konzept der Gemeinde (siehe Zweittext).

Abgestuftes Tarifsystem
Daniel Lindner ist Vater von drei Kindern. Sie heissen Dean (6½ Jahre), Neo (3½ Jahre) und Miyu (4 Monate). «Ich schätze es sehr, dass meine Familie in Bottighofen von einem optimal aufeinander abgestimmten Angebot profitieren kann. In dieser Gemeinde ist die Betreuung vom Baby bis zum Sechstklässler gewährleistet», sagt der IT-Unternehmer. Um anzufügen: «Dieses Angebot verschafft mir Spielräume, um zu Hause geschäftliche Aufgaben zu erledigen oder die Partnerschaft zu pflegen. Meine Frau und ich treiben gerne über den Mittag Sport. Wir schätzen es auch, wenn wir gemeinsam essen können.»
Am betreuten Mittagstisch werden die Kinder von 11.45 bis 13.45 Uhr wohlbehütet von Köchinnen und Betreuenden versorgt. Nach dem Essen bleibt Zeit, um Aufgaben zu lösen, miteinander zu basteln oder zu spielen. Ein von der Gemeinde alimentiertes und abgestuftes Tarifsystem sorgt für soziale Gerechtigkeit. Je nach Gesamteinkommen der Familie kostet eine Stunde Betreuung pro Kind zwischen 3 und 10 Franken, ein Mittagessen dagegen kostet fix 8 Franken. Eltern können für ihre Kinder auch nur einzelne Module buchen – beispielsweise eine Betreuung am frühen Morgen von 6.30-8.00 Uhr oder am schulfreien Mittwochnachmittag von 13.45-15.00 Uhr.
Der Betrieb ist dadurch gekennzeichnet, dass er unabhängig von der Schulorganisation stattfindet, jedoch örtlich und betrieblich nahe an der Schule angegliedert ist.

«Das beste Frühförderprogramm der Welt»
Auf dem Weg zur Bärenhöhle hängt ein Plakat. Darauf stehen die pädagogischen Leitgedanken der Kinderkrippe Calimero:
• Wir nehmen jedes Kind als eigene Persönlichkeit wahr und gehen auf seine Bedürfnisse ein
• Wir fördern das Kind gezielt nach seinem Entwicklungsstand
• Wir fördern die Selbstständigkeit der Kinder und das Tragen der Mitverantwortung
• Wir legen Wert auf eine ausgewogene, gesunde, abwechslungsreiche und saisonale Ernährung
• Wir geben den Kindern die Gelegenheit, ihrem Bewegungsdrang nachzugehen – sowohl drinnen wie auch draussen
• Für die professionelle Betreuung des Kindes ist uns eine optimale Zusammenarbeit mit den Eltern wichtig

In der Bärenhöhle geht es hoch zu und her. «Kinder, die miteinander spielen, befinden sich im besten Frühförderprogramm der Welt. Sie lernen hier fürs Leben, denn spielen heisst, sich absprechen, neue Eindrücke verarbeiten, Freude teilen und mit Frustrationen umgehen», sagt Marion Sontheim. In der Spielgruppe sind auch viele fremdsprachige Kinder. «Uns ist es wichtig, dass wir die Gruppen gut durchmischen. Wir wollen nicht, dass Kinder mit Migrationshintergrund unter sich sind. In der Regel beträgt die Quote Deutsch sprechender Kinder pro Gruppe 66 Prozent», meint Sontheim, die vor acht Jahren die Firma Zusammen wachsen – Koalitionspartner der Ready!-Kampagne – gegründet hat. «Kinder lernen Deutsch intuitiv und spielerisch. Sie integrieren sich schnell.»

Die Bärenhöhle
Die Bärenhöhle

Emotionaler Moment in der Bärenhöhle
Marion Sontheims Augen beginnen zu leuchten, als sie von ihrem eindrücklichsten Erlebnis in der Bärenhöhle erzählt. Sie berichtet von einer traumatisierten Pakistanerin, die ihr Kind in der Spielgruppe nie allein lassen wollte, da es sonst in Panik geraten wäre. «Nach neun Monaten hatten wir ihr Vertrauen gewonnen. Als sie einen Anruf bekam und hörte, dass ihre Schwiegermutter gestürzt war, überliess sie mir ihr Kind und ging. Das hat mich emotional tief berührt.»

Bindung ist entscheidend
Ein zentrales Thema für Marion Sontheim ist die Bindungsentwicklung eines Kindes in den ersten 12 bis 18 Lebensmonaten zu seinen Bezugspersonen. «Wir wissen heute, dass es für einen gelungenen Bindungsaufbau einen überschaubaren, möglichst konstanten Kreis von Betreuungspersonen braucht, die feinfühlig auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen. Deshalb wird hier darauf geachtet, dass die Kleinsten zwei Hauptbezugspersonen haben», sagt Sontheim. Werde das Kind nun von seinen Eltern gleichermassen liebevoll begleitet, starte es optimal ins Leben. Eltern bräuchten für eine familienergänzende Kinderbetreuung jedoch finanzielle Ressourcen, um genügend Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können, meint Sontheim. Und fügt an: «Die Schweiz kann sich nicht einmal zu einem minimalen Vaterschaftsurlaub durchringen. Sie ist das einzige Land Europas ohne öffentlich geförderten Vaterschaftsurlaub. In Schweden, wo fast alle Kinder ausserfamiliär betreut werden, ist das erste Lebensjahr durch bezahlte Elternzeit abgedeckt, die vom Vater oder von der Mutter bezogen werden kann. Das stärkt die Position der Frauen.» In der Schweiz dagegen müsse sich eine Frau in der Regel 14 Wochen nach der Geburt für den beruflichen Abstieg oder für eine ausserfamiliäre Betreuung entscheiden.

Emotionale Ressourcen und das Wissen der Eltern würden die Bindungsqualität ebenso beeinflussen, sagt Sontheim. «Eltern haben heute in der Regel keine oder wenig Erfahrung mit Säuglingen, da wir nicht mehr wie früher in Sippen und Grossfamilien leben und so automatisch den Umgang mit Babys erlernen.» Deshalb sollte ein neues soziales Netz gewoben werden, das Eltern in dieser wichtigen Zeit begleitet und ihnen hilft, eine sichere Eltern-Kind-Beziehung zu führen.

Eltern und Pädagogen von heute seien Pioniere, merkt Sontheim an. Und ergänzt: «Sie dürfen ihren eigenen Weg im Alltag mit Kindern finden, denn es besteht kein gesellschaftlicher Konsens mehr darüber, was in der Kindererziehung richtig und falsch ist. Das ist zum einen eine enorme Herausforderung, zum anderen eine fantastische Chance, neue Wege zu gehen.»

Fundbüro: Ob sich der Besitzer des Nuggis melden wird?
Fundbüro: Ob sich der Besitzer des Nuggis melden wird?


Das letzte Puzzleteilchen

Die Gemeinde Bottighofen ist stolz darauf, eine qualitativ hochstehende familienergänzende Kinderbetreuung anbieten zu können. Die Institution trägt ohne Frage zur Attraktivität des Dorfes bei. «Jetzt wollen wir noch das letzte Puzzleteilchen platzieren und acht zusätzliche Hortplätze für bis zu 30 Kinder schaffen», sagt Gemeinderat Patrik Hugelshofer. Am 5. Dezember wird die Gemeindeversammlung über das drei Jahre dauernde Pilotprojekt KiBo (Kids Bottighofen) abstimmen. Bei einem Ja würden für die Gemeinde Gesamtkosten in der Höhe von 240 000 Franken entstehen. Sollte sich in der Pilotphase zeigen, dass das Angebot Anklang findet und auch finanziell vertretbar ist, wird das Projekt institutionalisiert. Sollte das Angebot wider Erwarten nicht genutzt werden, wird das Pilotprojekt nach Ablauf beendet.

Tritt ein Kind – Stand heute – in den Kindergarten ein, entsteht für berufstätige Eltern eine Betreuungslücke. Die Unterrichtszeiten und auch die lange Ferienzeit (13 Wochen) ermöglichen es kaum, dass beide Elternteile ohne Fremdbetreuung einer beruflichen Tätigkeit nachgehen können. «Ziel der familienergänzenden Kinderbetreuung ist es, eine Randzeitenbetreuung für die Kindergartenkinder und Primarschüler aus Bottighofen anzubieten. Mit den zusätzlichen acht Hortplätzen könnten wir das tun», meint Hugelshofer, der für das Ressort Soziales zuständig ist. «Wir haben viele arbeitstätige Eltern in Bottighofen, die nach Lösungen fragten», begründet Hugelshofer das grosse Engagement der kleinen Gemeinde. Deshalb stelle die Gemeinde über 600 Quadratmeter Räumlichkeiten gratis zur Verfügung, sorge kostenlos für deren Unterhalt und gewähre Einwohnern von Bottighofen je nach Einkommen Sozialtarife. «Uns ist es wichtig, dass die Kinder im Dorf eine adäquate Betreuung finden. Wir möchten Alternativen zu Betreuungsformen wie Tagesmütter, Horte in anderen Ortschaften oder Nannys bieten», sagt Hugelshofer.

Autor: Thomas Wälti