«Man darf die Städte und Gemeinden nicht allein lassen»

6.03.2019

Marius Beerli ist Leiter Gesellschaftspolitik des Schweizerischen Städteverbandes. Er sagt, welche drei Städte im Bereich frühe Sprachförderung eine Vorbildfunktion ausüben und was er vom Bund bei der Entwicklung und Umsetzung einer umfassenden Politik der frühen Kindheit erwartet.

Marius Beerli,  Leiter Gesellschaftspolitik des Schweizerischen Städteverbandes
Marius Beerli, Leiter Gesellschaftspolitik des Schweizerischen Städteverbandes

Wieso ist das Bieler Kindersprachhaus einzigartig und nicht längst Schweizer Standard?
Marius Beerli: Es gibt ähnliche Angebote auch in anderen Städten, zum Beispiel in Basel oder Chur. Während Biel einen «Einschreibetag» für den Kindergarten organisiert, bei dem die Eltern nach den Sprachkenntnissen ihrer Kinder gefragt werden, verschicken Basel und Chur Sprachtests an die Eltern. Gemeinsam ist allen Vorhaben, dass sie auf eine systematische Erhebung der Sprachfähigkeiten vor dem Kindergarten setzen. Es ist sehr zu hoffen, dass ihr Modellcharakter erkannt wird, denn sie tragen zur Verbesserung der Chancengleichheit bei. Durch die Sprachtests findet man jene Kinder, die direkte Unterstützung nötig haben. Die Erfahrungen aus den verschiedenen Städten zeigen auch, dass die Familien die Kurse, die man ihnen anschliessend anbietet, nicht als Pflicht wahrnehmen, sondern das Angebot schätzen.

Hat das Bieler Kindersprachhaus Signalwirkung für andere Kantone?
Wir hoffen es sehr. Beim Thema der Sprachförderung hat man in Biel Handlungsbedarf erkannt und mit einem innovativen Projekt reagiert. Biel steht mit seiner heterogenen Bevölkerung im Bereich der Integration auch vor besonderen Herausforderungen. Es ist zu wünschen, dass die Erfahrungen und Lösungskonzepte, die die Stadt nun entwickelt, auch anderswo Beachtung finden.

Könnte das Bieler Kindersprachhaus in der Schweiz zum Vorbildmodell aufrücken?
Es werden unter den Fachleuten der Bildung und Integration derzeit verschiedene Modelle mit dem gleichen Ziel diskutiert. So sind neben dem Projekt in Biel wie erwähnt auch die frühe Sprachförderung des Kantons Basel-Stadt und die entsprechende Adaption in Chur wichtige Pionierleistungen. Allein die Tatsache, wie rasch diese Projekte von einem Ort zum nächsten übergingen – etwa von Basel nach Chur – zeigen, wie wichtig sie sind. Ich bin der Ansicht, dass darüber nachgedacht werden sollte, solche Modelle in der Schweiz quasi «flächendeckend» zum Einsatz zu bringen. Es sollte nicht dem Zufall des Wohnorts überlassen werden, ob ein Kind, das sprachliche Unterstützung braucht, solche erhält oder nicht. Zudem ist das Potenzial solcher Projekte, gerade wenn bildungsferne Familien erreicht werden, wirklich gross.

Welche Rolle soll der Bund bei der Entwicklung und Umsetzung einer umfassenden Politik der frühen Kindheit übernehmen?
Die verschiedenen Anschubfinanzierungen für die familienexterne Kinderbetreuung durch den Bund haben viel genützt. Und deren mehrfache Verlängerung zeigt ja auch, dass da Entwicklungsbedarf besteht. Ein längerfristiges finanzielles Engagement des Bundes im Bereich der frühen Kindheit sollte deshalb angestrebt werden. Er kann die Kantone und Gemeinden primär im Aufbau der Infrastruktur, jedoch auch in der Finanzierung von Subventionen für günstigere Krippenplätze unterstützen. Man darf die Städte und Gemeinden in diesem Bereich nicht allein lassen, denn es wird schwierig für sie, ihr Engagement noch markant auszubauen. Bereits heute bezahlen grosse Städte, wie beispielsweise Zürich oder Lausanne, deutlich über 50 Mio. Franken jährlich für die familienexterne Betreuung. Wenn die Schweiz in diesem Bereich substanziell weiterkommen möchte, braucht es ein finanzielles Engagement aller staatlichen Ebenen und auch der Wirtschaft.

133 Mitglieder

Der Schweizerische Städteverband zählt 133 Mitglieder. Er vertritt die Interessen und Anliegen der Städte, Agglomerationen und städtischen Gemeinden in der Bundespolitik. Zudem bietet er Plattformen für den Austausch unter den Städten. Zum Städteverband gehören mehrere Sektionen, in denen sich die jeweiligen Departementsvorsteher (Exekutiven) und Amtsleitungen der Mitgliedsstädte zur fachlichen Absprache und für Positionsbezüge vereinigen. Um den Bereich der Frühen Förderung kümmern sich die Städteinitiative Sozialpolitik und die Städteinitiative Bildung.
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