Die Brückenbauerin – Frühförderung in der Praxis

12.07.2017

Samrawit D. hat Eritrea vor zwölf Jahren verlassen, um in der Schweiz ein neues Leben anzufangen. Heute arbeitet sie als sogenannte Hausbesucherin für das Frühförderungsprogramm schritt:weise im Kanton Bern. Dabei zeigt die Eritreerin Eltern aus ihrer Heimat, wie sie ihre Kinder fördern können, damit diese ihr Potenzial voll entwickeln können und einen fairen Start ins Leben haben. Ein Besuch bei einer bemerkenswerten Frau mit einer aussergewöhnlichen Geschichte.

<b>Vor dem Fädelbrett:</b> Geschickt steckt Samrawit D. farbige Bändel durch die Löcher.<br> Bilder: Thomas Wälti
Vor dem Fädelbrett: Geschickt steckt Samrawit D. farbige Bändel durch die Löcher.
Bilder: Thomas Wälti

Samrawit D. sitzt in ihrem Wohnzimmer vor einem Fädelbrett. Geschickt steckt sie farbige Bändel durch die Löcher. «Dieses Spielzeug fördert die Konzentration und die Feinmotorik des Kindes. Die Übungen sollen ihm zeigen, wie man zum Beispiel Schuhe bindet oder Bilder stickt», sagt die gebürtige Eritreerin.

Ende 2005 ergreift Samrawit D. die Flucht aus Eritrea. Sie sieht im repressiven Land am Horn von Afrika keine Perspektive. Diktator Isayas Afewerki regiert mit eiserner Hand. Ein Jahr dauert die beschwerliche Odyssee. Über den Sudan, Libyen und die Mittelmeer-Route erreicht sie Italien. Von dort fährt Samrawit D. mit dem Zug in die Schweiz. Nach Basel. Ins Erstaufnahmezentrum.

Auf dem Stubentisch liegen Dominosteine aus Holz mit aufgedruckten Tiermotiven. «Dieses Spiel hilft den Kindern, Tiere und Wörter zu erkennen; es lehrt sie ausserdem, Regeln einzuhalten, warten zu können und sich mit jemand anderem zu beschäftigen», erklärt die 34 Jahre alte Samrawit D. in ihrer Wohnung im Kanton Bern.

Samrawit D. ist erschlagen von den Eindrücken in der Schweiz. Zum ersten Mal in ihrem Leben sieht sie Schnee. Und ein Tram. Dass sie in Frieden leben kann, ist für sie das Schönste. Nur die Sprache macht ihr zu schaffen. Und die Kälte. Nebst ihrer Muttersprache Tigrinya spricht sie Äthiopiens Landessprache Amharisch sowie ein wenig Arabisch und Englisch. Nach fünf Monaten kommt sie ins Durchgangszentrum Enggistein in der Gemeinde Worb bei Bern. Jeden Morgen wird die Asylbewerberin dort abgeholt, um auf einem Bauernhof in Guggisberg landwirtschaftliche Arbeiten zu verrichten. Am Abend geht es zurück nach Enggistein. In der Asylunterkunft lernt sie ihren künftigen Ehemann kennen – er kommt aus Guinea, Westafrika.

Kaffepause: Samrawit D. gönnt sich einen Espresso und ein Stück Hembasha-Brot.
Kaffeepause: Samrawit D. gönnt sich einen Espresso und ein Stück Hembasha-Brot.

In der Wohnung riecht es nach Kaffee. Samrawit D. stellt einen Teller Hembasha-Brot auf den Tisch. Dann knüllt sie eine Zeitungsseite mit Klebstreifen zu einem Ball zusammen. «Eine einfache und günstige Spielidee mit Sachen aus dem Haushalt. Der Ball zieht das Kind sofort in seinen Bann», sagt die humorvolle Gastgeberin. Natürlich kenne sie Eritreas Läuferstar Zersenay Tadese, meint Samrawit D. mit leuchtenden Augen. Er gewann 2004 in Athen über 10'000 Meter die erste Olympiamedaille für Eritrea. Eine Erfolgsstory. Auch Samrawits Geschichte hat ein Happy End.

2009 erhält Samrawit D. einen positiven Asylentscheid. Die Ungewissheit ist zu Ende. Endlich kann sie sich Ziele setzen. Sie beginnt Deutsch zu lernen. Zwei Lektionen pro Woche. Die Sprachbarriere fällt. Die soziale Integration verläuft dank ihrer aufgeschlossenen Art reibungslos. Die Eritreerin ist unendlich dankbar dafür, dass sie in ihrer neuen Heimat so herzlich willkommen geheissen wird. Sie findet Arbeit im Reinigungsdienst bei der Postfinance-Arena in Bern. Daneben putzt sie in Privathaushalten. Samrawit D. bezieht erstmals eine eigene Wohnung. 2010 heiratet sie. Im gleichen Jahr kommt ihr Sohn Noah zur Welt, zwei Jahre später der zweite Bub, Amen. Sie erhält die Niederlassungsbewilligung.

In der Wohnung fehlt ein Satelliten-Empfänger. «ERI TV» kann Samrawit D. deshalb nicht empfangen. Auch eine Facebook-Seite hat sie nicht eingerichtet. Ganz bewusst. Sie will sich vor traurigen Nachrichten aus der früheren Heimat schützen. «Bei der Überfahrt sind viele Menschen gestorben. Das hat mir das Herz gebrochen. Ich möchte Eritrea so in Erinnerung behalten, wie ich das Land aus meiner Kindheit kenne. Das Zusammengehörigkeitsgefühl war einzigartig», sagt Samrawit D. Jede zweite Woche telefoniert die orthodoxe Christin mit ihrer Mutter und dem Bruder, die beide in der Hauptstadt Asmara leben. «Noah spricht mit seiner Grossmutter Tigrinya. Er fragt sie immer, was er ihr schicken soll», erzählt die sympathische Afrikanerin. Noah spricht, wie sein kleiner Bruder Amen, auch Fula, die Sprache des Vaters. So kann er sich gleichermassen mit seinen Grosseltern in Guinea unterhalten. Natürlich sprechen Noah und Amen auch Berndeutsch. Kinder lernen schnell. Samrawit D. und ihr Mann, ein Muslim, sprechen Englisch miteinander.

Samrawit D. und ihr Mann werden bei der Erziehung der Kinder vom präventiven Frühförderungsprogramm schritt:weise unterstützt (siehe Kasten). Die Familie erhält während 18 Monaten – aufgeteilt in zwei neunmonatige Programmstufen – einmal pro Woche Besuch von einer geschulten Laienhelferin. Samrawit D. lernt, dass sie ihre Buben in der Schweiz ganz anders erziehen muss als in Eritrea, wo die Mutter wenig mit ihrem Kind spricht und den Augenkontakt mit ihm aus Respekt vermeidet. Das Programm schritt:weise dient als Brückenbauer zu Frauen und Kindern aus anderen Kulturen. Die Laienhelferin vermittelt Samrawit D. fünf Elternkompetenzen: 1.) Sprechen Sie mit Ihrem Kind! 2.) Schenken Sie Ihrem Kind Aufmerksamkeit! 3.) Beachten Sie die Interessen Ihres Kindes! 4.) Lassen Sie das Kind ausprobieren! 5.) Geben Sie Ihrem Kind Sicherheit! Samrawit D. kann sehr viel profitieren. Sie arbeitet längere Zeit als Kinderbetreuerin in den Gruppentreffen des Programms schritt:weise – und bewährt sich dort. Sie wird angefragt, ob sie Hausbesucherin werden möchte. Ein neues Ziel vor Augen, wagt Samrawit D. den grossen Schritt von der Programmteilnehmerin zur Hausbesucherin.

Samrawit D. geht mutig an ihre neue Aufgabe heran. Sie beherzigt das Motto: «Ich kann es ja einmal probieren und dann fragen, wenn ich nicht mehr weiter weiss.» Spontanität hilft ihr, bei ihren Hausbesuchen auch die Männer in die Erziehung mit einzubeziehen. «Ich möchte, dass die Männer in der Erziehungsarbeit mehr Verantwortung übernehmen. In Eritrea ist die Kindererziehung Sache der Frau. In der Schweiz übernehmen die Eltern diese Aufgabe gemeinsam», sagt die Frau aus dem Staat am Roten Meer. Um anzufügen: «Das Schönste an meiner Aufgabe ist, wenn ich die Fortschritte der Kinder sehe. Das freut mich enorm.» Als Hausbesucherin hat Samrawit D. eine deklarierte Modellrolle – sowohl für die Kinder als auch für die Eltern. Welche Träume würde sie gerne noch verwirklichen? «Ich wünsche mir, dass meine Familie gesund bleibt und die Kinder dereinst einen guten Beruf ergreifen können; dass ich meine Deutschkenntnisse verbessere, und dass ich einmal in der Pflege arbeiten kann.»

Am 6. Juli 2017 ist Samrawit D. mit ihren beiden Kindern nach Khartum geflogen. In der Hauptstadt des Sudans, dem Nachbarstaat Eritreas, hat sie ihre Mutter wiedergesehen – nach zwölf langen Jahren. Samrawit D. hat für sie gute Turnschuhe gekauft und ein paar praktische Geschenke aus einer Berner Brockenstube mit dabei.


Schritt für Schritt in eine bessere Zukunft

Das präventive Frühförderungsprogramm schritt:weise unterstützt sozial benachteiligte und bildungsferne Eltern mit Kindern zwischen 1 und 5 Jahren. Der Verein a:primo – Koalitionspartner von Ready! – hat das in den Niederlanden entwickelte Programm an die schweizerischen Verhältnisse angepasst und bietet es Trägerschaften in Städten und Gemeinden in der gesamten Schweiz zur Umsetzung an.
Das Programm dauert 18 Monate und findet primär bei den Familien zu Hause statt. Es zeichnet sich zum einen durch wöchentliche, etwa 30 Minuten dauernde Hausbesuche aus. Die Eltern werden von geschulten Laienhelferinnen – wie Samrawit D. aus der Titelgeschichte – unterstützt. Die Hausbesucherinnen sind Mütter, die einen ähnlichen Erfahrungshintergrund haben wie die Zielgruppe.
Kernziel des Programms ist die Verbesserung und Intensivierung der Eltern-Kind-Interaktion. Die Eltern sollen mehr Sicherheit im Umgang mit ihren Kindern erhalten. Dazu werden sie in ihren Erziehungskompetenzen gestärkt und für die altersspezifischen Bedürfnisse ihrer Kinder sensibilisiert. Das praktische Vorgehen vermittelt die Hausbesucherin durch modellhafte Anleitung während ihres Besuchs. Gespräche und gemeinsames Spiel sollen an Bedeutung gewinnen und zu einem positiven Familienklima führen.
Ausserdem finden alle 14 Tage Gruppentreffen statt, bei denen soziale Kontakte geknüpft und Informationen zur Entwicklung und Erziehung der Kinder ausgetauscht werden.
Eine Koordinatorin übernimmt die fachliche Schulung, die Anleitung und die personelle Führung der Hausbesucherinnen. Ein wöchentliches Treffen zwischen der Koordinatorin und der Hausbesucherin dient zudem der Vorbereitung des nächsten Hausbesuchs sowie der Reflexion des vorhergegangenen.
Mehr über schritt:weise und die Standorte des Frühförderprogramms finden Sie hier.


Autor: Thomas Wälti